Chefredakteur Fabio Crynen im Gespräch mit Prof. Dr. Andreas Pinkwart (FDP), Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen

BISS35: Herr Minister, diese Ausgabe der BISS35 widmet sich dem Thema Energiepolitik. Sie sind gegenwärtig Landesminister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie – ein ganzer Strauß an wichtigen, aber doch verschiedenen Ressorts. Welche Synergieeffekte können wir zwischen diesen Politikfeldern für unser Land erzielen?

In einer Zeit, in der wir große Transformation zu bewältigen haben, ist es von zentraler Bedeutung, dass wir Politikfelder bündeln können. Mit dem Ressort Energie haben wir seit 2017 auch das Thema Klimaschutz in unserem Ministerium. Es ist uns ein Anliegen, den Widerspruch zwischen Wirtschaft und Klimaschutz aufzuheben und deutlich zu machen: Diese Bereiche bedingen sich wechselseitig.
Das gleiche gilt für die Digitalisierung. Beim Thema Energie werden wir nur dann kluge Antworten finden, wenn wir das Energiesystem der Zukunft digital gestalten und mit intelligenten Netzen verknüpfen. Eine auf erneuerbaren Energien basierende Energieversorgung wird immer volatiler werden. Deswegen wird es nötig sein, die Nachfrage viel flexibler anzupassen und dabei hilft uns die Digitalisierung ungemein.
Angesichts dieser vielen Aufgaben könnte man das Ministerium auch „Zukunfts- und Transformationsministerium“ nennen.

BISS35: Das Thema Energieversorgungssicherheit steht bei dieser Transformation für viele Menschen im Mittelpunkt. Wir steigen nicht nur aus der Kernenergie, sondern auch aus der Kohle aus. Alternative Energiequellen wie Gas importieren wir. Wie groß ist die Chance, dass bei uns in Nordrhein-Westfalen irgendwann die Lichter ausgehen?

Das müssen wir auf jeden Fall verhindern. Die Energieversorgungssicherheit ist beim Umbau unseres Energiesystems in Richtung Klimaneutralität enorm wichtig. Deswegen müssen wir bei den Erneuerbaren den Aspekt der Speicherung viel mehr in den Vordergrund rücken. Auch die schon angesprochene Flexibilität der Nachfrageseite spielt eine wichtige Rolle: Wenn ich beispielsweise ein Aluminiumwerk einige Stunden vom Netz nehmen kann, ohne dass dadurch die Produktion erheblich gestört wird, ist das Werk für diese Zeit auch ein Energiespeicher. So ein Aluminiumwerk hat die Energieleistung eines mittleren Gaskraftwerkes. Es entsteht ein riesiger Vorteil, wenn solche Industriebetriebe Energie entsprechend der Wind- und Sonnenverhältnisse flexibler nachfragen. Das technologische Wissen dafür haben wir in Nordrhein-Westfalen.

Diese Flexibilität können wir auch für die Elektromobilität und private Haushalte nutzen. Nehmen Sie als Beispiel die Quartierskonzepte, bei denen Photovoltaik, Geothermie oder Wärmepumpenleistung mehrerer Haushalte über intelligente Netze zusammengeschaltet werden. Auf diese Weise können wir durch blockchain-basierte Austauschprozesse die Nachfrage nach Energie untereinander ausgleichen. All' das brauchen wir, um das System zu stabilisieren, wenn wir die konventionellen Kraftwerke nicht mehr am Netz haben sollten.

Bei der anstehenden Transformation sollten wir durchaus auch Gas, insbesondere sauberes Gas, als Brückentechnologie in den Blick nehmen. Beim Wasserstoff stehen wir zwar erst am Anfang. Aber wenn wir die Erneuerbaren national und weltweit viel stärker ausbauen, ist Wasserstoff ein ganz wichtiger Speicher von Überschussenergie, um Dunkelflauten und Spitzenlasten besser ausgleichen zu können. Neben Wasserstoffleitungen müssen auch Batteriespeicher und Pumpspeicherkraftwerke ausgebaut werden. Das alles wird jedoch nur dann geschehen, wenn wir ein entsprechendes Marktdesign haben mit entsprechenden Anreizen für Investoren.

BISS35: Sie haben bereits das Mega-Thema Wasserstoff angesprochen. Auch die NRW-Koalition setzt es ganz oben auf die Agenda, ungefähr eine halbe Milliarde Euro stellt Nordrhein-Westfalen hierfür zur Verfügung. Wieso hat gerade unser Bundesland das Potenzial zum "Wasserstoff-Land Nummer 1"?

Nordrhein-Westfalen ist heute schon Wasserstoffland-Nummer 1. Wir nutzen hier 30 Prozent des deutschen Wasserstoffs und haben schon seit Jahrzehnten ein 240 Kilometer langes Pipeline-Netz. Das zeigt: Wir können in Nordrhein-Westfalen mit Wasserstoff umgehen und wir nutzen es auch schon in der Industrie, allerdings noch auf fossiler Basis.

Für die Zukunft sehen wir Wasserstoff als Enabler: Zum einen mit Blick auf die Energiespeicherung bei erneuerbaren Energien, damit wir den grünen Strom, der nicht unmittelbar genutzt werden kann, nicht ins Ausland verschenken müssen oder dabei sogar noch draufzahlen. Zum anderen brauchen wir Wasserstoff für die Mobilität. Vor allem für die großen Verkehrsmittel – Nutzfahrzeuge, Bus und Bahn – ist Wasserstoff ein sehr spannender Energieträger. In diesem Bereich verzeichnen wir in Nordrhein-Westfalen immer mehr Firmenansiedlungen und haben gleichzeitig eine großartige Forschungslandschaft. So ist es uns gelungen, das deutsche Innovations- und Technologiezentrum Wasserstoff (ITZ) unter dem Dach des Deutschen Zentrums Mobilität der Zukunft nach Duisburg zu holen.

Mit dem neuen Wasserstoff-Cluster am Helmholtz-Institut in Jülich treiben wir darüber hinaus die Nutzbarmachung von Wasserstoff im Energiesektor und in der Industrie voran. Auch Elektrolyseure in allen Größenklassen, die Wasserstoff produzieren und die Technologie weiterentwickeln, sind in unserem Land ansässig. Insofern verfügen wir beim Wasserstoff über enorme Fähigkeiten entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Gleichzeitig haben wir aber auch einen gewaltigen Bedarf an Wasserstoff, um unsere Industrie bis 2045 klimaneutral zu machen. Das gilt neben der Stahlherstellung vor allem für die Chemieindustrie, in der wir Wasserstoff für die Entwicklung synthetische Stoffe einsetzen wollen, um in Zukunft klimaneutralen Kunststoff und synthetische Kraftstoffe herzustellen.

BISS35: Bei all' dem Zukunftsoptimismus: Tatsache ist auch, dass erneuerbarer grüner Wasserstoff noch nicht ausreichend vorhanden ist. Wie lange müssen wir noch auf grauen oder orangenen Wasserstoff zurückgreifen?

Wenn wir einen Technologiewechsel vornehmen, stehen wir immer vor einem Henne-Ei-Problem. Warten wir so lange mit der Transformation unserer Produktionsmöglichkeiten, bis wir genügend grünen Wasserstoff haben? Oder bauen wir die Infrastruktur jetzt schon um und nutzen sie im Übergang zunächst mit grauem oder blauem Wasserstoff? Ich nehme mal das Beispiel Elektromobilität: Wenn wir mit der Umstellung der Automobilproduktion so lange warten würden, bis unser Strom zu 100 Prozent grün ist, dann hätten wir immer noch keine Elektroautos auf der Straße. Eine Transformation braucht Zeit – je länger ich sie hinausschiebe, umso stärker verschlechtert sich die Wettbewerbsfähigkeit.

Daher ist es auch beim Einsatz von Wasserstoff klug, das Thema nicht ideologisch, sondern pragmatisch anzugehen. Wenn man die Übergänge zwischen fossil und erneuerbar erzeugtem Wasserstoff flexibel organisiert, ist man schneller am Ziel – auch was die Klimaneutralität anbelangt.

BISS35: In unserer Olper Erklärung haben wir auch die Kernfusion angesprochen. An dieser Technologie wird seit 70 Jahren geforscht. Derweil wird aus der Volksrepublik China verkündet, es sei ein Durchbruch im Bereich der Flüssigsalzreaktoren gelungen. Sind diese Arten "grüner" Kernenergie auf der politischen Agenda präsent?

Wir sind in den letzten Jahren mit diesen Technologien relativ kritisch umgegangen und haben ihnen kaum noch Möglichkeiten eingeräumt. Ich habe mich in meiner Zeit als nordrhein-westfälischer Wissenschaftsminister dafür eingesetzt, dass wir zumindest die Kernsicherheitsforschung an den Hochschulen weiterführen, denn das ist aus meiner Sicht dringend notwendig. Wir brauchen qualifizierte Menschen auf diesem Gebiet, um die eigene Technologie etwa in Bezug auf Rückbau und Endlagerung in den nächsten Jahrzehnten begleiten zu können.
Obwohl es uns klimapolitisch helfen könnte, ist die politische Unterstützung für die Kerntechnologie bei uns nicht allzu groß ausgeprägt. Man muss anerkennen, dass sich die Gesellschaft hierauf mit Blick auf die nicht unerheblichen Risiken nicht verständigen kann. Deshalb sehe ich auf dem Weg zur Klimaneutralität in der Kernenergie keine Lösung – erst recht nicht bis 2045.

Ich halte es dennoch für notwendig, dass man an der Grundlagenforschung weiter Teil hat. Es ist richtig, dass bei uns Fusionsforschung betrieben wird. Deutschland muss auch international bei neuen Entwicklungen im Bereich der Kernenergie mitreden und sein Know-how einbringen können.
Klar ist auch: Wenn wir uns in Zukunft aus der konventionellen Energieversorgung zurückziehen, werden wir uns in manchen Situationen noch eine Weile auf französischen Atomstrom oder polnischen Kohlestrom verlassen müssen. Wichtig ist deshalb, dass wir die Erneuerbaren Energien und die damit zusammenhängenden Technologien massiv weiterentwickeln. Hier haben wir noch viel Potenzial, das wir nutzen sollten. Die technologischen Fortschritte können wir auch mit unseren europäischen Partnern teilen, denn auch Frankreich kann sich nicht ausschließlich auf die Kernkraft verlassen und hat ein Interesse am Ausbau der Erneuerbaren. So können wir in Europa wechselseitig voneinander profitieren.

Das Gespräch führte Fabio Crynen.

Kontaktperson

Arvid Hans Hüsgen

Pressesprecher

+49 211 1360048

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