Dr. Carsten Linnemann ist Volkswirt und seit 2009 direkt gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis Paderborn. Er ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und war bis Dezember 2021 Bundesvorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT). Im Gespräch mit BISS 35 verrät er, worauf es in der neuen Rolle als Opposition im Bundestag und bei der Neuaufstellung der Partei ankommt.

BISS35: Im Rahmen der Mitgliederbefragung können die CDU-Mitglieder erstmals direkt über den neuen Bundesvorsitzenden entscheiden. Viele vermissen aber den Namen Carsten Linnemann auf dem Stimmzettel. Warum treten Sie nicht selbst an?

Dr. Carsten Linnemann: Carsten Linnemann ist mit von der Partie, und zwar im Team Friedrich Merz. Friedrich Merz genießt an der CDU-Basis große Zustimmung. In Umfragen liegt er immer deutlich vorne – auch im Vergleich zu meiner Person. Ihm traue ich zu, die Partei befrieden zu können. Nicht zuletzt mit dem Team, das er vorgestellt hat und dem ich auch angehöre. Sollte Friedrich Merz gewinnen, werde ich als Leiter der Grundsatz- und Programm-Kommission die inhaltliche Erneuerung unserer Partei maßgeblich mitgestalten. Das ist genau mein Ding.

Im neuen Jahr stehen gleich vier wichtige Landtagswahlen an. Auch in unserem Bundesland wird am 15. Mai gewählt. Wie schaffen wir es als Partei die jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten und gleichzeitig mit voller Kraft und Konzentration einen Wahlkampf zu bestreiten?

Diese Partei hat in den letzten 16 Jahren noch nie so viel Tacheles geredet und so schnell Schlüsse gezogen wie nach dieser Wahl. Das geht auf den Einsatz von Armin Laschet und Paul Ziemiak zurück.

Entscheidend für 2022 sind zwei Dinge: Erstens müssen wir die Ampel-Koalition inhaltlich stellen, wie etwa beim Beispiel beim Thema Inflation. Was heißt das für die ganz normalen Menschen in Deutschland, die jeden Tag zur Arbeit gehen? Bei den Spritpreisen, bei den Gaspreisen, bei Vielem mehr. Da ist die Ampel echt blank. Zweitens müssen wir uns parallel inhaltlich bei den Grundsatzfragen neu aufstellen. Wie finanzieren wir in Zukunft die Sozialversicherung? Was ist eigentlich unser Rentenkonzept für die Zukunft? Wie gehen wir mit China um? Wir müssen sowohl unser wirtschaftliches Profil schärfen als auch auf die soziale Frage bessere Antworten geben.

Und bei den Landtagswahlen kommt es natürlich auf die Länder selbst an. Hendrik Wüst hat für mich einen herausragenden Start hingelegt, gleich Tacheles gesprochen und Führung gezeigt. Er ist präsent, die Deutschen kennen ihn mittlerweile und er wird unsere volle Unterstützung im Wahlkampf bekommen.

Sie haben das Thema Inflation bereits angesprochen. Die EZB spricht von einem vorübergehenden Corona-Effekt. Wenn aber doch die Gefahr einer längerfristigen Lohn-Preis-Spirale besteht, stellt sich natürlich die Frage, wie die Politik darauf kurzfristig reagieren kann, um die Bürgerinnen und Bürger und insbesondere die Familien zu entlasten?

Ich sehe ganz eindeutig die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale und gehe inzwischen davon aus, dass wir auch im nächsten Jahr durchschnittlich mehr als 3 Prozent Inflation haben werden bei gleichzeitig 0 Prozent Zinsen. Für mich unterschätzt die EZB das Problem maßlos. Sie hat einen Auftrag der Geldwertstabilität und die liegt bei rund 2 Prozent und nicht mehr. Deswegen müssen die Zinsen jetzt bald erhöht werden und nicht erst im Jahr 2025 oder sogar noch später. Frau Lagarde ist in der Pflicht und hat eine Verantwortung für die ganze Währungsunion und nicht nur für Frankreich.

Die Familien, aber auch der Mittelstand, müssen jetzt schnell entlastet werden. Zunächst muss die CO2-Abgabe zurück an die Bürgerinnen und Bürger fließen. Eins zu eins. Da kommt man auf rund 700 bis 800 Euro Entlastung im Jahr 2022 für eine vierköpfige Familie. Das ist schon eine Hausnummer. Zweitens: Die Pendlerpauschale muss überarbeitet werden. Es ist nicht gerecht, wenn diejenigen, die morgens in der Großstadt mit der U- oder S-Bahn zur Arbeit fahren genauso entlastet werden wie ein Pendler im ländlichen Raum, der auf das Auto angewiesen ist und bei dem die hohen Spritpreisen voll reinschlagen. Das sind für mich zwei Punkte, wo wir neben der Senkung der Stromsteuer und der EEG-Umlage schnell entlasten können.

Ein entscheidender Punkt, den die neue Programmkommission angehen wird müssen, ist die Rentenpolitik. Wie gelingt der CDU die Entwicklung eines zukunftsfähigen Rentenkonzeptes?

Was fehlt ist ein neuer Generationenvertrag. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Aber es ist doch offenkundig, dass die private Altersvorsorge in Deutschland de facto gescheitert ist und dass die betriebliche Rente häufig nicht bei denen ankommt, die sie brauchen. Die Rente mit 63 war einer der fatalsten Fehler, die dieses Land in der Rentenpolitik in den letzten Jahrzehnten gemacht hat. Sie hat ein völlig falsches Narrativ gesetzt, dass Arbeiten etwas Schlimmes ist. Wir unterstützen den Verwaltungsangestellten in einer Stadtverwaltung, damit er seine Weltumsegelung machen kann oder seinen sechsten Marathon. Aber diejenigen, die wirklich unsere Hilfe brauchen, nämlich die 1,8 Millionen Erwerbsgeminderten, die nicht mehr arbeiten können, weil sie körperlich oder seelisch kaputt sind, die gehen de facto leer aus.

Wir müssen diejenigen, die nicht mehr können, konsequent und vollkommen altersunabhängig unterstützen. Und auf der anderen Seite müssen wir dann darüber reden, ob wir nicht perspektivisch die Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung koppeln. Ich wäre für so einen Vorschlag offen.

Der Koalitionsvertrag der neuen Ampelregierung ist veröffentlicht worden und einige Beobachter erkennen dort eine liberale Handschrift. Was halten Sie von der Vereinbarung und macht die neue Rolle als bürgerlich-liberale Regierungspartei die FDP stärker und uns zukünftig zu schaffen?

Grundsätzlich bin ich froh, dass es die FDP als Korrektiv in der Regierung gibt und es nicht zu Rot-Grün pur oder noch schlimmer Rot-Rot-Grün gekommen ist. Das betrifft vor allem Themen wie die Schuldenbremse. Da muss die FDP jetzt liefern. Aber in anderen Themenfeldern wie der Inneren Sicherheit, der Äußeren Sicherheit oder auch bei der Migration gestaltet sich dieser Koalitionsvertrag mehr als schwierig. Ich finde es fatal, dass man in diesem Vertrag Polizisten de facto unter Generalverdacht stellt oder das Fachkräftezuwanderungssystem mit dem Asylsystem vermischt. Selbst Menschen, die betrügen und ihre Identität leugnen bzw. eine andere angeben, sollen künftig hier arbeiten dürfen. Das gibt einen enormen Pull-Effekt, der Menschen dazu verleitet, sich auf der Suche nach einem besseren Leben zu uns auf den Weg zu machen. Das ist für mich eine sehr gefährliche Politik, denn am Ende des Tages droht sie nicht nur unser Land zu überfordern, sondern auch die EU zu zerreißen.

Bei der Migrationsfrage haben wir natürlich aktuell die Bilder an der Grenze zu Belarus im Kopf. An der EU-Außengrenze stehen Menschen, die mit Versprechungen eines Diktators dorthin gelockt worden sind, um in die EU einzureisen und viele von ihnen wollen nach Deutschland. Die humanitären Bedingungen vor Ort sind katastrophal. Wie können wir diesen Menschen helfen und gleichzeitig unsere Grenzen schützen, oder müssen wir uns für eine Variante entscheiden?

Wir müssen beides. Die EU muss ihre Grenzen sichern und kontrollieren, wer ins Land kommen darf uns wer nicht. Allein schon, um das perfide Spiel, das der belarussische Diktator mit Menschen treibt, zu unterbinden. Niemand kann wollen, dass noch mehr Menschen mit unhaltbaren Versprechungen ins Elend gelockt werden. Daher haben unsere polnischen Freunde jede Unterstützung verdient. Gleichzeitig müssen die an der Grenze Gestrandeten natürlich vor Ort Hilfe bekommen. Das steht außer Frage. Ziel muss es aber sein, dass sie wieder in ihre Heimatländer rückkehren. Ansonsten drohen Fehler, wie wir sie 2015 gemacht haben. Wer wirklich Schutzbedürftigen helfen will, sollte das im Rahmen von sogenannten Kontingenten machen. Das ist zielgenauer und es schützt Leben.

Nach 16 Jahren als führende Regierungspartei sitzt die CDU nun für mindestens vier Jahre auf der Oppositionsbank. Und zwar nicht gerade in bester Gesellschaft, sondern zusammen mit AfD und Linkspartei. Wie stellen wir sicher eine kritische Oppositionsführerin zu sein und uns gleichzeitig glaubwürdig von den anderen Oppositionsparteien, insbesondere von der AfD, zu distanzieren?

Sowohl die AfD als auch die Linkspartei haben Probleme, sich von extremistischen Strömungen zu distanzieren. Allein an diesem Punkt wird es immer deutliche Unterschiede geben. Zweitens müssen wir in den Ländern, in denen wir regieren, auch die heiklen Themen konsequent angehen. Denn das verschafft Glaubwürdigkeit. Dazu ein Beispiel: Kein Land hat im vergangenen Jahr mehr islamistische Gefährder abgeschoben als NRW. Innenminister Herbert Reul hetzt nicht, sondern handelt. Im Übrigen sollten wir die AfD komplett ignorieren. Auch wenn es dann dazu kommen sollte, dass die AfD genauso abstimmt wie wir. Davon dürfen wir uns aber nicht beirren lassen, sondern müssen unseren Weg gehen. Die Menschen sind nicht blöd, die durchschauen es, wenn wir taktieren.

Das Interview führte Frederik Müller.

Kontaktperson

Arvid Hans Hüsgen

Pressesprecher

+49 211 1360048

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